Einführungsrede von Margot Michaelis zur Eröffnung der 43. Jahresausstellung der

salzgitter-gruppe am 21.11.04 im Atrium des Rathauses in Salzgitter

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kunstfreunde,

die diesjährige 43. Ausstellung zeigt die salzgitter-gruppe wieder in bemerkenswerter Produktivität und bekannter Beständigkeit. Es imponiert, wie es den Künstlerinnen und Künstlern Jahr für Jahr gelingt, eine Zusammenarbeit zu organisieren und zudem übers ganze Jahr eine rege Ausstellungstätigkeit hier in Salzgitter zu entfalten.

Während im Kulturbetrieb auf ständigen Umschlag von Innovationen gedrängt wird, heute eine Kunstform neugeboren und morgen totgesagt wird, wird Beständigkeit – wie wir sie hier vorfinden – zu einer Eigenschaft von besonderer Qualität – behauptet sich doch das Lokale gegenüber der allseitigen Mystifizierung des Globalen und schafft einen Raum für Identifikation.

Diese Form der Beständigkeit und Nachhaltigkeit können die Künstler und Künstlerinnen der salzgittergruppe vermutlich deshalb pflegen, weil sie sich nicht auf ein gemeinsames kunstideologisches Programm verpflichten und stattdessen ihre Besonderheit in der Mischung künstlerischer Individualität in gegenseitigem Respekt verstehen.

So finden wir auch dieses Jahr wieder eine Fülle ganz unterschiedlicher künstlerischer Positionen und Herangehensweisen, sei es bezogen auf die Technik – von Malerei und Zeichnung, über Fotografie und Collage bis zur Bildhauerei und Plastik – sei es im Hinblick auf künstlerische Positionen, die die Breite von realistischer Auffassung, surreal anmutender Erfindung bis hin zu freier Abstraktion beinhalten.

Vielseitigkeit und Vielfalt zeigen die Künstler, die sich unabhängig von den jeweils aktuell in den Fokus der Kunstkritik geratenen Tendenzen in ihrer künstlerischen Sprache mit dem beschäftigen, was für sie ein wichtiges Thema ist.

Der Schriftsteller Peter Weiss hat einmal geschrieben. „Es ist das Prinzip der Kunst, etwas zu tun, obgleich die Umstände dagegen sind..“ Und die Umstände für Kunst sind heute bekanntlich nicht besonders gut. Wo Alternativlosigkeit, Affirmation unter der absoluten Herrschaft von Sachzwängen zum Leitprinzip gesellschaftlicher Entwicklung erhoben wird, wird nicht zufällig die Sparschraube an Kultur und Bildung angesetzt. Künstlerisches Denken widerspricht durch seine Fähigkeit zur Imagination nämlich dem Diktat der Alternativlosigkeit. Denn Kunst drängt durch ihre Fähigkeit zur Antizipation, zum Denken in Alternativen auf anderes Sehen und letztlich auf Veränderung zum Besseren. Sie entwirft Modelle des Möglichen, provoziert andere Sichtweisen, macht das Nahe fremd und das Fremde nah. Diese Fähigkeit, das Wirkliche zu sehen und das Mögliche zu erkennen, ist ein aufklärerischer Gedanke, den wir bereits bei Goethe finden: „Der Mensch ist als wirklich in die Mitte einer wirklichen Welt gesetzt und mit solchen Organen begabt, dass er das Wirkliche und nebenbei das Mögliche erkennen und hervorbringen kann.“ Dies wird heute leider viel zu oft vergessen, geht unter in den Phrasen der Phantasielosigkeit eines bürokratisch statt geistig verstandenen Überbaus. Der österreichische Schriftsteller Robert Menasse warnte kürzlich in einer Rede vor dem derzeitigen Abbau des aufklärerischen Gedankenguts. Wo dem Menschen durch den vorgeblichen Sachzwang die Handlungsfreiheit abgesprochen wird, sieht Menasse bereits den Keim des Totalitären.

Gegen dieses Diktat leben und wirken Künstler, um nicht einer latenten und tatsächlichen Lähmung zu unterliegen oder den trivialen Göttern der Alternativlosigkeit zu opfern. Sie nehmen dafür die existenzielle Marginalisierung und die Rolle des Unbequemen in Kauf. Aber sie finden ihr Publikum, gerade weil sie weiterhin an die Möglichkeiten von Gegenmodellen erinnern, wozu sie aufdecken, was ist und hinter die Dinge schauen, den Menschen in seiner Individualität ernst nehmen, um Möglichkeiten des Wahrnehmens auszuloten und Interpretation von Wirklichkeit anzubieten, die nicht schon vorgedacht und nicht schon erledigt sind, oder sie schaffen einfach etwas, was es vordem noch nicht gab. Vieldeutigkeit, Subjektivität, emotionale Stellungnahmen und offene Fragestellungen, zuweilen sogar Verstörungen machen das Besondere des künstlerischen Bildes aus.

Wer etwa sind die vier Herren, deren Gesichter Marianna Zumstein in präziser Realistik aus einem Stamm herausgearbeitet hat, während von außen das rohe, nur von der Rinde befreite Holz als beinahe geschlossene Form den Betrachter abweist? Wir haben Mühe in diese nach innen gerichtete geschlossene Gesellschaft auch nur mit den Augen einzudringen. Wir ahnen nur die Gleichförmigkeit der Köpfe, dieser uns ausschließenden Gruppe ohne sie wirklich einordnen zu können. In ihrer Klonhaftigkeit mögen sie an die Gleichschaltung öffentlicher Meinung erinnern – aber es kann auch etwas anderes darin liegen.

Wolfgang Spittlers frische und zugleich erfahrungsgesättigte Malereien lassen ein optimistisches Menschenbild zu. Porträts – aus der Erinnerung geschaffen – zeigen eine junge Frau, die selbstbewusst ihre Beine reckt. Wie im Zustand aktiven Wartens oder Zuhörens ist sie in einer transparenten, zarten Malerei, zugleich in bewegungsreicher malerischer Handschrift formatfüllend ins Bild gesetzt. Mit ihren kessen blaugeringelten Strümpfen, dem offenen Mantel verkörpert sie eine unaufdringliche Erotik und einen modernen selbstgewissen Frauentyp. Sie könnte den Musikern auf dem anderen Bild zuhören, deren rhythmische Bewegung und Musik in die musikalische Rhythmik der Bildkomposition übertragen wurde.

Soviel geben die Köpfe von Susanne Hesch nicht von sich preis. Nur auf konturierte Andeutungen reduziert, schaffen sie atmosphärische Dichte durch die auf Weiß aufgebauten abgestuften Valeurs, denen sich ein stark gesetztes Rot kontrastbildend entgegenstellt. Ein roter Kasten über dem Kopf, Augenfigurationen, die sich ausbreiten – vielleicht sind es Bilder vom Denken, Bilder der Inspiration, des Sehens und Wahrnehmens aber auch Bilder des produktiven Zweifelns.

Erika Grüttners Mischtechniken und Collagen blattfüllender Formen verweisen nur indirekt auf den Menschen, indem sie etwas Organartiges und Naturhaftes einerseits und Verweise auf menschliche Erfahrung und Handlung andererseits verarbeiten.

Horst Freymann verfremdet die Phänomene des Alltags, sei es ein lesendes Mädchen oder
ein großformatiges Stillleben durch skizzenhaft aufgefasste, fast auf die Konturen beschränkte starkfarbige Malerei. Eher entmaterialisierend wirken dabei die unterlegten Farbflächen fast reiner Gelb-, Blau- oder Rottöne. Zwischen dem Momenthaften der skizzenartigen Ausführung, der Unbeweglichkeit des Motivs und der Symbolik der Vergänglichkeit entsteht dabei eine reizvolle Spannung.

Vergängliches im Sinne einer melancholischen Rückschau, dem Traum von einer verloren gegangenen Welt mag der Anstoß für die fein gezeichneten Stillleben und Interieurs von Helga Groll gewesen sein, in denen das Inventar Vanitasmotive, Spuren der Kindheit und einfache Fundstücke vereint. Schön gezeichnet und doch verstörend die gebrochene Idylle, in der monumentale Pilze vor der Kulisse eines liebliches Waldstücks wuchern, in das eine Betonbrücke kalt hineinragt.

In der Sequenz dreier Stillleben von Heinrich-Hugo Ibold herrscht eine gestrenge kompositorische Ordnung. Geradezu unräumlich sind die Gegenstände aufgereiht. Es dominiert jeweils eine Farbe, die auf Zeitläufe, Tageszeiten und damit verbundene Stimmungen verweisen mag. Es sind wohl Atelierbilder, Stillleben zur künstlerischen Arbeit, die um Ideen, Abbilder, um Spiegelung und Mythos kreist, um Rhythmus der Zeit, wo aus energetischer Fülle der Farbe Rot ein Porträt entstehen kann.

Freude am Sinnlichen und am Material, an der Erprobung von Sichtweisen findet sich in Dieter Michaelsens Serie von Reliefs. Einfache Dinge des herbstlichen Alltags fügt er zu einem den Rand überschreitenden Stillleben, experimentiert mit Abdrucken und kubo-perspektivischen Sichtweisen, um die Wirkungen der unterschiedlichen künstlerischen und technischen Prinzipien auszuloten, ja, Alternativen sichtbar zu machen.

Haben wir in diesen Stillleben die Dinge oft symbolisch inszeniert, so werden sie in der Fotografie zu Erscheinungen als Phänomene des Lichts, die erst gefunden und entdeckt werden müssen.

Ursula Trams fokussiert in ihren kultivierten SW-Fotografien wundersame im Alltag aufgespürte Lichterscheinungen. Ein plötzliches Aufgleißen der Sonne, die durch den Himmel stößt, eine matte Straßenleuchte, ein Licht vor altem Gemäuer, das beinahe noch Dunkel zulässt – gleichsam als Lob des in unseren Städten fast nicht mehr vorhandenen Schattens. Dann ein raffiniertes Verwirrspiel von Spiegelungen. Was ist hier das Bild, was das Abgebildete?

New York als Zusammenprall von Gegensätzen sehen wir in den Fotografien von Michael Ewen. Licht und Schatten, krass aufeinander stoßend, Ruhe und Bewegung – beides drückt wie programmatisch das gleichzeitig von Sonne und elektrischen Lampen beleuchtete Motiv „The Movie“ aus. Wo Größe und Gewalt der Architektur, der monumentalen Plastik die Menschen zu Menschlein macht, zeigt Michael Ewen doch deren Lebensenergie. Sie sind doch da, der Läufer oder die Zeitungsleserin mit ihrem Hund, die vom reizvollen Ornament des Schattens umfangen wird.

Licht und Schattenphänomene geben auch den malerischen Zeichnungen von Helmut Lingstädt ihre besondere Atmosphäre. Aus feinen sich überlagernden Schraffuren lässt er wie auf einer Bühne Figuren erscheinen, die bald aus negativem, bald aus positivem Raum entstehen. Wie hinter einem Vorhang finden Begegnungen statt oder erotische Annäherungen. Sind es entfernt gesehene Alltagsszenen, oder heimliche voyeuristische Einblicke in eine intime Welt? Die überwiegend kühle Farbigkeit, die nicht erkennbare Individualität schafft Abstand und lässt Gefühle von Entfremdung aufkommen.

Überraschend die großformatigen Fotografien von Klaus Berner. Was wie ein Spiel mit dem Motiv der Nationalflagge erscheint, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als eine verblüffende Resteverwertung. Die Entdeckung, die sich scheinbar zwischen Rothko- hafter mystischer Landschaft und Staeck-ähnlicher Ironie bewegt, ist Ergebnis der Hochvergrößerung von Randstücken entwickelter Fotonegative. Das musste erst einmal gefunden werden.

Landschaft kann heute geträumte Idylle, touristischer Ort oder Landschaft des Inneren sein. Das Motiv kann Anlass für Experimente und Imaginationen werden, in denen sich die dauernde Verwandlung allen Seins symbolisch vollzieht.

Über Wolfgang Schneiders Landschaft mit Steinbruch liegt eine leise Melancholie von Werden und Verschwinden. Ganz in Grüntönen durch feine Abstufungen von Farbe und Duktus teilen sich Landschaftsfelder, verschwinden in der Raumtiefe und verwandeln sich in Licht und Schatten.

Gleichsam aus dem Ungewissen treten die Motive bei Hans-Jürgen Trams hervor und lassen jahreszeitliche Stimmungen nachempfinden. Raffiniert werden aquarellierte Lasuren mit deckender Gouache in diesen sprühenden Landschaften bearbeitet.

Gunther Fritz kostbare Malerei verknüpft Landschaftliches mit klar gesetzten, Raum bildenden Flächen, die wie eine willkürliche Verdeckung der Landschaft wirken. Beides – Raum wie Landschaft – entsteht im Kopf des Malers, der als konturhafter Schattenriss im Bild erscheint und das Betrachten und Bilderfinden uns überlässt. Auch sind die Landschaften mit ihrem fremdartigen Personal nur scheinbar realistisch. Bei näherer Betrachtung löst sich alles in Struktur und bloße Farbe auf und lässt das Wesen der Malerei hervortreten – die Verwandlung von Farbe und Material in eigenen Sinn.

Noch weiter geht Heide Lühr- Hassels in der Abstraktion. Ihre monumentalen Landschaften sind ganz und gar aus der Malerei entwickelt. In einem furios gestischem Farbauftrag wird eine krustige, pastose Bildfläche geschaffen, die zwischen Fläche und Raum changiert. In richtungsloser Ausdehnung überschreitet das Bild seine Ränder. Wie in dauernder Verwandlung befindliche Erdformationen gerät alles ins Fließen. Es können aber ebenso gut Landschaften des Inneren sein, wenn nämlich deren expressive Leuchtkraft als Ausdruck einen inneren Zustands verstanden wird.

Aus vier gleichen Teilen zusammengesetzt ist die Luftbildlandschaft von Bernhard Hollmig. Das Relief einer spanischen Gebirgslandschaft mit den typischen schluchtenhaften Tälern wie aus dem Flugzeug gesehen, ist zugleich Stimmungsbild und abstrakte Farbkomposition. Die trockene Acrylfarbe wird dazu dicht und transparent eingesetzt.

Hat man hier eine ungewohnte Sichtweise, so verwandelt Dan Groll Handschuhe, Brokkoli, Fragmente aus dem Alltag in fremdartige Wundergärten, feine kleine Paradiese aus vornehm leuchtender Farbigkeit, wunderlich und fremdartig. Eine verzauberte Welt aus bizarren Gewächsen.

Dagegen werden die aus reiner Farbe und unmittelbarem Duktus geschaffenen abstrakten Formationen Peter Kuhls zugleich zu Spuren ihrer Entstehungsprozesse. Reichhaltige Farbigkeit, experimentelle Strukturen, Karstiges, Raues, Gespachteltes oder Abgezogenes, alles wird durch intensive Leuchtkraft zu unmittelbarer malerischer Energie.

Roland Küblbeck hat seine Methode des malerischen Collagierens dieses Mal mit Aquarellen verwirklicht. Sein Spiel mit teils politisch anzüglichen, teils ornamental überbordenden Elementen in seiner Bildoberfläche ohne Leerraum steckt voller Erzählfreude und feiner Ironie. Aus der grauen Burg kommend hängen die Kreuzritter recht schief in dieser Welt – ein kritischer Kommentar zum Irakkrieg.

Metamorphosen sind die Fotomontagen von Bruno Zweitasch. Fremdartig wirken sie wie Fotografien aus dem All oder Nachrichten aus einer düsteren Zukunft. Ein harmloses Verkehrszeichen und ein abgewetzter Stein für das Festzurren von Schiffstauen haben sich in surrealer Weise zu diesem Motiv verbunden, das auf den Kopf gestellt Schwerelosigkeit vorgibt.

Drei verschiedene Materialien, eine Form, die Verschiedenheit des Gleichen kann man in den auf Äußerste geglätteten Steinskulpturen von Bernd Klarwasser erkennen. In ihrer elastischen spannungsvollen Ausdehnung können diese Drillinge zugleich organisches Wachstum eines Vogels wie erotische Form sein. Das unterschiedliche Material in dieser Serie von hohem haptischen Reiz lässt ein jeweils verändertes Spiel von Licht und Schatten zur Geltung kommen. Plastische Vielansichtigkeit erschließt sich bei der aufrechten Marmorfigur im Herumgehen, wo wechselweise Mann oder Frau, Freude oder Trauer hervortritt.

Bernd Schlender kombiniert geschmiedete bizarre Figuren mit Elementen von Holz. Wessen Kopfgeburten sollen es sein? Sind es die des Künstlers oder der Welt, die er kritisch hinterfragt? Das eine könnte ein Soldat einer verrückten Armee sein, gekennzeichnet durch einen Helm, eine Art Hellebarde. Ein anderes Stück zeigt aggressive horizontale Formen, die eine andere gewaltsam durchstoßen. Ambivalent bleibt die Pflanze mit der sich gerade öffnenden roten Blüte, die auch etwas Befremdliches hat. Ein besonderer Reiz geht von der Materialkombination und daraus entstehenden Konnotationen aus. Das Material kann gleichermaßen zum Töten wie zum Leben geschmiedet werden.

Die Künstler weisen auf vielfältige Weise darauf hin, dass es immer eine andere Möglichkeit gibt.

„Vom Schönen wird gesagt, dass es erfreue, ja sogar genossen werde. Doch hat es seinen Lohn damit noch nicht dahin, Kunst ist keine Speise. Denn sie bleibt auch nach ihrem Genuss, sie hängt selbst in den süßesten Fällen noch in ein „vorgemaltes“ Land hinaus.“ (Ernst Bloch, „Ästhetik des Vorscheins“, S.203)

Einen nachhaltigen Kunstgenuss wünsche ich Ihnen nun mit der aktuellen Ausstellung der salzgitter-gruppe.