EINFÜHRUNG Salzgittergruppe 9.11. 2014

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kunstfreunde und -freundinnen,

woran messen wir eigentlich Kunst? – Da gibt es viele Möglichkeiten, würden Sie sicher sagen: Vielleicht an Schönheit, an Wirksamkeit, an Bekanntheit, an Technik, an Größe, an Beliebtheit? 

Die Süddeutsche Zeitung fragte in einem Interview den Künstler Markus Lüpertz, ob man Kunst mit Geld messen kann. Seine Antwort war:
Nein, aber die Zeit tut es. Wir haben ein ganz einfaches Prinzip: Der teuerste Künstler ist der beste Künstler.
Und das ist falsch? fragt die Süddeutsche
Lüpertz: Nein. Millionen Menschen können doch nicht irren. Das ist jetzt kein Vorwurf an die Zeit, aber sie hat die Götter, die Ideale, die Hierarchien abgeschafft. Und nun haben wir kein Maß mehr außer dem Geld.
Und damit meint er natürlich, dass das Maß dieser Gesellschaft Geld, Gewinn, ergo kommerzieller Erfolg ist. Kann man also heute überhaupt noch Kunst machen, ohne an Marktgängigkeit, Kommerzialität und Wertstellung zu denken? – Ja, man kann. Und genau das macht die Mehrheit der Künstler und Künstlerinnen in diesem Land. Es sind die, die nicht zu den berühmten 2% der Kunstmarkterfolgreichen gehören. Sie unterlaufen – mal freiwillig und mal widerwillig – das System Kunst und machen einfach, was sie als ihren eigenen Auftrag ansehen. Sie bearbeiten mit ihren Mitteln ihre Themen. Darin liegt eine Freiheit, nicht selten auch eine finanzielle Not. Vielleicht ist es aber auch eine Tugend. So entsteht jedenfalls die Kunst, die an vielen Orten schlichtweg präsent ist, die die Gesellschaft im regionalen Umfeld bereichert und darin ihr Maß und ihre Spiegelung findet. So braucht diese Kunst ihr Publikum und das ist heute – wie immer wenn die Salzgittergruppe ausstellt – anwesend. Wie schön.

Und es ist wieder ein breites Spektrum von Themen, Gattungen, Stilen und Techniken zu sehen. Wer diese Gruppe schon lange begleitet, wie ich, erkennt, dass hier jeder und jede an einer Spur arbeitet, in der Kontinuität vorhanden ist, aber auch Sprünge möglich sind. Die Gegenwart kann unmittelbar eine Rolle spielen, oder sich hinter zeitlosen vielleicht auch persönlichen Themen verbergen. Vielfach geht es dabei um grundsätzliche Fragen nach Lebenssinn, wobei die Antworten offen bleiben.

Zu den zeitlosen Werken gehören sicher die großformatigen, expressiven Abstraktionen von Peter Kuhl. Seine Bilder lassen kaum gegenständliche Assoziationen zu, sie geben der unmittelbare Geste Raum, machen die Arbeit mit dem Spatel sichtbar und lassen uns am Ereignis des Werdens teilhaben. Starke Farbkontraste und heftige Bewegungen spielen mit der Spannung von Raum und Fläche, mit dem haptischen Reiz der Farbe und sind dabei von ungeheurer Vitalität.

Heide Lühr Hassels füllt direkt gegenüber eine große Wand mit einer informellen und experimentellen Malerei aus, in der man durchaus ihre Palette wieder erkennt: herbstige Brauntöne, gewagtes Schwarz und im Kontrast dazu tief leuchtende Variationen von Türkis, Blau und starken warmen Gelbtönen. In dem Relief aus Farbschichten und anderen Materialien, das zum Teil durch eine Art pollock’sches Dripping entstanden ist, scheint das Bild zu leben und zu vibrieren. Es lebt aus der Spannung zwischen dem Haptisch-Materiellen und dem Geistigen, das darin zu ergründen ist. Der zunächst überraschende Titel „Labyrinth“ deutet vielleicht an, dass man einen Weg aus Umwegen in diesem Werk selbst suchen muss.

Auch Marlies Mefs – als Gast bei dieser Ausstellung dabei – arbeitet mit der Materialität von Farbe und anderen Rohstoffen und schafft aus greifbaren Spuren karstige Landschaftsformationen, die aber durchaus auch Assoziationen von Körperlichkeit zulassen. Zwischen großen weißtonigen Flächen, schwarzen Lineaturen und erdigen Strukturen werden die teils leuchtenden Farben Orange, Gelb, Blau Türkis zu Lichterscheinungen. Alles in diesen kraftvollen Malereien changiert zwischen starker Materialität einerseits und der Leere, dem Verschwinden andererseits.

Michael Ewens Arbeiten erscheinen demgegenüber eher konstruktiv – und das sind sie in ihrer kompositorischen Auffassung auch. Man glaubt, etwas wie Architekturen, Fensterdurchblicke, aber auch Textiles zu erkennen. Tatsächlich sind es er-fundene oder besser ge-fundene Bildwirklichkeiten, die Michael Ewen mit Pinsel oder Rakel über viele Schichten von Papier gelegt hat. Seine malerisch-experimentellen Arbeiten rhythmisieren die Bildfläche, um daraus durchaus eine Vorstellung von Wirklichkeit zu generieren.

Einem strengen Kompositionsprinzip folgen auch die kleinformatigen Öl und Acryl-Gemälde von Heinrich-Hugo Ibold. Wie Stillleben komponiert finden sich bei Ibold geometrische Körper zu immer neuen farbigen Formationen zusammen. Titel wie „Am Anfang“ oder „Leben“ verweisen auf Grundsätzliches, vielleicht auf das elementar und konstruktiv Gebaute der Welt, gleichsam als Bausteine des Lebens. 

Es ist etwas Seltenes, die Original-Handabzüge der Schwarz-Weiß-Fotografien von Ursula Trams in ihrer reizvollen Körnigkeit und Klarheit zu sehen. Diese Fotos sind Kostbarkeiten, die scheinbar bloß am Elbufer gefundenes Treibholz zeigen, dieses dann aber im klassischen Duktus der Schwarz-Weiß-Fotografie zu einer wundersamen Form werden lassen, die aus kräftigen Schatten und zugleich feinen Nuancen von Graustufen gebildet wird. 

Hans Jürgen Trams kühle und atmosphärische auf den Horizont und auf Tiefenraum hin komponierte Meerlandschaften zeigen einen kultivierter Stil, der ganz aus der Malerei kommt. Sand, Wasser, Himmel, Luft werden von dieser Malerei aufgesogen und zerschmelzen zu dem Gefühl, dem Duft, zur Erinnerung ans Meer. 

Klaus Berner ist ein Reisender, dessen mitgebrachte Schätze Fotografien sind. Er sammelt und ordnet darin seine Eindrücke – dieses Mal aus japanischen Gärten und Weihestätten. Die strenge Komposition der Fotos korrespondiert mit der Strenge des Motivs, etwa den präzise geharkten Sandspuren, dem Schneestück, das von Kieseln gerahmt wird. Dann wieder entdeckt er Zeitgeist, indem er das Bild einer historischen Architektur mit dem modernen, sehr banalen Schild EXIT konfrontiert. Das drohende Verschwinden der Vergangenheit deutet sich an oder die Transformation von Geschichte in Touristenattraktionen.

Helmut Lingstädt widmet sich unspektakulären Orten, um ihnen eine künstlerische Sicht abzugewinnen. Die schnöde Ausfahrt aus der Tiefgarage des Tillyhauses wird zum überraschenden Bildmotiv. Zwar ahnt man noch, dass zunächst ein Foto gemacht wurde, doch legt der Künstler das Bild sehr malerisch an. Es gibt in diesem lapidaren Motiv ein Geheimnis wie auch bei der Menschengruppe auf einer Treppe. Sie steigen auf, sie gehen abwärts, woher, wohin? Man erkennt nicht, ob es eine Brücke, ein Ausguck oder das Nichts ist. So wird das Ganze zur Metapher über das Leben.

Die kostbar und anziehend wirkenden malerischen Kompositionen mit Rückenfigur von Gunther Fritz scheinen Geschichten zu erzählen – Geschichten allerdings, die nicht aufgehen, die flüchtig sind wie Erinnerungen. Das Motiv des Vogel fällt in seiner prägnanten Darstellung auf. Andere Bildelemente bleiben unausgesprochen, angedeutet. Räume öffnen sich und bleiben doch rätselhaft. Ein Titel: „Deutschland Herbst“ schafft wiederum Verwirrung: man denkt an den Deutschen Herbst .. aber ist der gemeint? Was verbindet den Jungen, der z.T. nur als Kontur zu sehen ist, mit dem Vogel, welche Sehnsucht, welche Wünsche oder Erinnerungen? 

„Aus der Zwischenwelt“ nennt Reinhard Wessoleck seine Collagen C-Prints. Aus sehr disparaten Elementen ist eine Reihe statuarisch wirkender Figuren gefügt. Vor Hintergründen, die an alte Gemäuer oder geologische Strukturen erinnern, scheinen sie zu posieren. Trotz der starken Verfremdung, der Fügung aus Versatzstücken von Natürlichem, von Elementen unterschiedlicher Kulturen, solchen aus der Konsumwelt und den Zeichen einer erotischen Präsentation wirken sie auf verblüffende Weise wie ein Ganzes. Dabeierwecken sie den Eindruck etwas mythologisches zu repräsentieren. Als hätten sie eine Botschaft über die Rätsel des menschlichen Seins zu vermitteln, das sich hinter ihrer Vordergründigkeit verbirgt.

Imke Weichert ist als Gast vertreten. Sie stellt in ihren beiden Gemälden zwei Welten besonderer Kommunikation nebeneinander: der Blick in ein türkisches Café. Fast nur Männer, an Tischen sitzend. Man spielt Karten, man redet. Es herrschen Ruhe und Konzentration. Dann der Blick von oben in einen Raum, in dem eine Vernisage stattfindet. Das bürgerliche Publikum, fein gekleidet, man spricht stehend und gestikulierend in kleinen Gruppen – werden die Bilder an der Wand überhaupt angeschaut?

Dreimal dieselbe Geste nimmt die Frauenfigur ein, die Susanne Hesch in lockerem Strich jeweils auf ein schwebendes Blatt gesetzt hat. Frei scheint sie sich zwischen Planeten zu bewegen, flügellahm geht sie mit einem einzelnen gelben Flügel am Rücken aus dem Bild, geblendet stockt sie vor ihrem Spiegelbild im rosa Spiegel…Ist es dieselbe Frau, die uns die Frage stellt, was geschieht, wenn man vom Leben in ein anderes Kleid gesteckt wird? 

Die Stillleben von Dieter Michaelsen haben etwas Ruppiges und zugleich Ansprechendes. Ein Osterbild – erkennbar an dem gelb herausleuchtenden Osterglockenstrauß wird zu einer Assemblage aus Küchenhandtuch, Graupappe, dem gemalten Durchblick zu einer Kirche. Die Bildteile überlagern sich, draußen und drinnen verbinden sich in der Fläche, ein reales Tuch begegnet den gemalten Blumen. Dieter Michaelsen spielt mit den Mitteln von Kubismus und Collage und schafft dabei ganz persönliche Bilder.

Im für ihn typischen schmalen Format in einer lockeren Malerei führt uns Wolfgang Spittler in die Welt junger Frauen, die er wie ein sympathisierender Beobachter ganz bei sich lässt. Schmal und elegant malt er sie, zugleich in großer Natürlichkeit – ob draußen, eng mit einem Hund verbunden, der mit seinen roten Zähnen wie der gebändigte Zerbarus erscheint, oder nach Innen gerichtet beim Spiel auf der Gitarre. 

Ein ganzes Buch wird Bild in der kalligrafisch überbordenden, wie aus einem Knäuel von Schrift und Objekten geschaffenen Longleiner-Zeichnung von Roland Kübelbeck. In die Fülle dieser skurrilen Weltinterpretationen muss man schon sehr genau hineinschauen, um ihrerielfalt und ihrem Anspielungsreichtum Herr zu werden.

Auch Dan Groll stellt uns in seinen fröhlich farbigen Szenerien eine komisch-skurrile Mannschaft schräger Typen von der Küste vor. Anregungen boten ihm dazu Steine, denen er Gesichter abgelauscht hat, weswegen es auch heißt: „Hein vom Stein nicht allein“. 

Bei Peter Herzogs Malerei aus dem Botanischen Garten wuchert eine an sich wilde Natur mit all ihrer Schönheit im Innenraum vom Menschen gebändigt. Wo der gebändigte Dschungel auf das karge Fenster trifft, sind alle Blattformationen, Blütenstände und Differenzierungen von Grün in aller Lebendigkeit erfasst. Ein Bild der Natur in Gefangenschaft.

Gerhard Richter hat einmal gesagt, Malen sei etwas ganz und gar Lebensnotwendiges. Das gilt für alle Künstlerinnen und Künstler – ob malend oder in anderen Gattungen. Ja, Kunst ist lebensnotwendig – und das auch für uns als Betrachter. 

Reden wir über Geld: Markus Lüpertz „Ich will groß sein. Also bin ich es“ 
http://www.sueddeutsche.de/geld/reden-wir-ueber-geld-markus-luepertz-ich-habe-mein-genie-erfunden-1.1082652-2