Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kunstfreunde,
lassen Sie mich mit Hölderlin beginnen

Hälfte des Lebens

Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser….

Das Gedicht bezieht sich nicht nur auf das Bild hinter mir. Es spricht Grundthemen von Kunst an, die auch in vielen anderen Bildern aufscheinen. 

Die Salzgittergruppe zeigt in ihrer diesjährigen Ausstellung wieder Werke von großer Vielfalt an künstlerischen Positionen, Gattungen und Themen. Passend zu diesem Herbst, der den Raum mit Lichtstreifen verzaubert, mag man an die Herbstgöttin Pomona denken. Als wäre deren Füllhorn voller unterschiedlicher Früchte – in diesem Fall Früchte der künstlerischen Arbeit – hier ausgeschüttet worden.

FOTOGRAFIE

Folgen wir zunächst KLAUS BERNER, dem fotografierenden Flaneur, unterwegs an Orten, an denen etwas nicht zusammenstimmt, sich reibt, aufeinander stößt. Er verweist mit seinen hier ausgestellten Farbfotografien auf die Irritationen, die an der Grenze von Kunst und Wirklichkeit entstehen. Der Ort – eine durchaus befremdlich erscheinende Ausstellung zum Lutherjahr im Gefängnis zu Wittenberge.
HELMUT LINGSTAEDT zeigt Räume, in denen Vergangenheit aufscheint. In seinen schwarz-weißen Digitaldrucken werden klassische Gestaltungsmittel der Fotografie sichtbar: Hell und Dunkel, rätselhafte Ausschnitte, belebte Oberflächen. Motive des Vergänglichen im Spiel von Licht und Schatten, Spuren der Vergangenheit, abblätternder Putz, ein rätselhafter Fensterausblick. Das fotografische Sehen bleibt auch in den farbigen Ölkreidearbeiten erkennbar: wie herangezoomt faszinieren Oberflächen von Mauern, Steinen, Pflanzen. 
URSULA TRAMS reizt in ihren schwarzweißen Foto-vintage-prints die Spannung zwischen Hell und Dunkel so aus, dass ihre Natur- und Landschaftsmotive auch die Qualität abstrakter Kompositionen aufweisen. Es ist das Licht, das plötzlich aus einem geradezu schwarzen Himmelsfeld bricht oder die Bewegung einer Entenfamilie auf dem Wasser ausleuchtet, wo sonst alles schwarz bleibt.
Lichtspiele mit Papier. Frauenfüße, vom Durchscheinen einer Jalousie in Streifen gefasst. Ist es Durchblick, Einblick, Aufblick? MICHAEL EWENs querformatige Fotoarbeiten verrätseln und verlocken. Der Wechsel von Raum und Fläche verwirrt die Wahrnehmung, die zugleich in der Ausgewogenheit der Komposition Ruhe findet. 

NATUR UND LAND

HANS-JÜRGEN TRAMS Seestücke feiern die Faszination der Wellenlandschaft am Meer. Die Gischt, die Wellen unmittelbar bevor sie sich brechen oder matt auslaufen. Farbstimmungen, kleine Spuren menschlicher Existenz, ein quadratischer Ausschnitt aus der Unendlichkeit. Ein melancholischer Gruß an das Anthropozän oder an die traditionelle Kunst der Seemalerei, wie sie Courbet in Nachfolge der holländischen Malerei schon fasziniert hat?
Zwischen Natur und Abstraktion bewegt sich die Arbeit von HEIDE LÜHR-HASSELS, der zurzeit im oberen Stockwerk eine eigene Ausstellung gewidmet ist. Die Qualität ihrer Malerei – einer Art abstraktem Expressionismus – liegt in dem feinen Farbempfinden, einer sehr persönlichen Palette und dem konzentrierten Pinselduktus. Das hier ausgestellte Bild lässt Endlosigkeit spüren, kann Aufblick und Anblick zugleich sein. Es vermittelt gleichermaßen Natürliches wie Bewegung im abstrakten Sinn. 
Die Frage, was ist Natur, gibt uns GUNTER FRITZ auf ganz artifizielle Weise in seinen edel gerahmten Miniaturen auf. Ist es Wald, Körper, Struktur? Gunter Fritz liebt es, rätselhafte Bildwirklichkeiten zu schaffen, die – halb Wirklichkeit, halb Traum- immer auch etwas Kostbares haben. 
NICOLA FALCO ist als Gast mit fein ziselierten Lithografien vertreten. Zunächst erscheinen sie wie abstrakte Landschaftsaufsichten. Dann erkennt man darin Architekturen in perspektivischen Ansichten. Grafische Strukturen bilden sich aus topografischen Aufsichten, wo dörfliche Gefüge, Landschaft , sortierte landwirtschaftliche Flächen, Berge, Wald, Fluss in räumliche Verkippung und Verknickung geraten, sich aus der Ebene heraus bewegen, ja, plötzlich senkrecht stehen. Gerät hier gerade alles, was einmal von Menschen geordnet war, in Unordnung? Oder überwiegt der grafische Reiz?
In DAN GROLL‘s buntfarbigen märchenhafte Welten gibt es viel zu sehen: Holzhäuser, Boote, Wege, Zeichen an der Wand, ein Schiff namens Alma, gepflegte Natur, ein Papagei. Alles verweist auf menschliches Leben und dennoch erscheint dieses wunderliche „Spielzeugland“ wie verlassen.

MENSCH

Aus dem reichen Schatz seiner Druckgrafik zeigt WOLFGANG SPITTLER Holzschnitte mit „Bildern der Passion“. Die Motive Flucht, Verrat, Streit und Not lassen sich durchaus auf die Gegenwart beziehen. Markant die symbolische Kraft der dynamischen Formensprache Spittlers: Wie etwa die Fäuste aufeinander treffen beim Streit um das letzte Hemd Christi. Wie der Mantel des Verrats sich düster in die Diagonale drängt.
Von REINHARD WESSOLEK sah man bisher die Gesichter, die der Welt der Printmedien entnommen und verfremdet sind. Hier nun schöpft er für seine C-Prints aus archaischen Motiven. Man denkt an Urvölker und deren Rituale. Doch auch hier Schminken und Verbergen des Gesichts. Lenkt der Künstler in diesen Prints den Blick gerade zurück auf den Ursprung, um zu fragen, wie weit wir mit unseren Maskierungen bis heute gekommen sind?
SUSANNE HESCH‘S figurative Gesten, die leere Fläche um die Figurationen herum, lassen den Betrachtern Raum zur Einfühlung. Empfindsam, zart auch in den Mitteln umkreisen die Arbeiten menschliche Befindlichkeiten. 

ABSTRAKTION 

Als künstlerischer Seiteneinsteiger bringt ANDRE STAWINSKI Buntheit und Bewegung in Form von abstrakter Farbfeldmalerei in die Ausstellung. Abstraktionen, die sich endlos ausdehnen könnten über den Bildrand hinaus, die mit der Wahrnehmung spielen und durch Titel dann doch eine narrative Denkrichtung angeben.

SKULPTUR

Spannungen und Beziehungen, wie sie sich an einem Familientisch äußern. Die Spiele, die Blicke, die Gesten. Und die herrlich beherrschende Katze! DIETER MICHAELSEN hat weitere dramatische Variationen zum Motiv der hölzernen Tischskulpturen geschaffen. Fein, wie sich aus dem Holzblock die Gesichter und sprechenden Gesten herausbilden. Zum Familientisch gesellt sich jetzt auch der Katzentisch. Nur Katzenbesitzer werden wirklich verstehen, warum ein Katzentisch hier zum Tisch der Katze wird. 

MALEREI EXPRESSIV

Ungemein frisch und locker gemalt kommen uns die beiden Gemälde von PETER HERZOG entgegen. Es faszinieren die malerische Dynamik und die farbigen Setzungen, die ganz ungezwungen wirken. Die nur scheinbar alltäglichen Motive geben Rätsel auf, verweisen auf eine individuelle Symbolik. – Was ist zum Beispiel mit dem großen Vogel des Vogelhändlers, den Jalousien, die auch Gitter sein können? – ein Traum? Vielleicht von Freiheit und eingesperrt sein?
Mit PETER KUHL möchte ich schließen. Sein großformatiges Gemälde „Im Winde klirren die Fahnen“ (F.Hölderlin) hat einen prominenten Platz an der Stirnwand bekommen. Der Titel verweist auf die letzte Zeile des schon zitierten Gedichts von Friedrich Hölderlin, das – 1804 entstanden – wiederum mit „Hälfte des Lebens“ überschrieben ist. Das Gedicht vermittelt – verkürzt gesagt – Sinnlichkeit, Melancholie und Furcht vor dem, was der Winter der zweiten Hälfte des Lebens dem Dichter bringen mag. 

Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde ?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen. 
(Friedrich Hölderlin 1804)

Der Klage, dem „Weh mir“ in diesem Gedicht stellt Peter Kuhl aus meiner Sicht eine dynamische, vielleicht sogar aggressive Wildheit entgegen. Mit vitaler Malerei und durchaus ambivalent antwortet er in dem künstlerischen Dialog der Furcht des Dichters vor dem Winter des Lebens. 

An dieser Stelle und an den anderen dieser Ausstellung lohnt es sich, selbst zu ergründen, was die Bilder und Skulpturen Ihnen mitteilen, welche Empfindungen sie bei Ihnen wecken. Ernst Barlach gab einmal die Empfehlung: Zu jeder Kunst gehören zwei: einer, der sie macht, und einer, der sie braucht.
Heute haben sie einmal wieder die Gelegenheit, das zu erfahren. Dabei wünsche ich Ihnen viel Freude.

Margot Michaelis
Schubertstr. 2
38114 Braunschweig
margot-michaelis.de
margot.michaelis@gmx.de